Die Spinnstube
(Auszüge aus einem Bericht von O. Schulte aus Beuren um 1900)
(Blätter für hessische Volkskunde, Gießen 1903)
1. Die Spinnstube ist eine Arbeitsstube, in der auf dem eigenen Felde gezogener oder gekaufter Flachs gesponnen wurde. Aber man spann hier nicht zuerst für den eigenen Gebrauch. In früheren Jahren ist Oberhessen, zumal der nördliche Teil, viel von Garnhändlern besucht und bewohnt gewesen, welche in den Dörfern und auf den Märkten das gesponnene Garn aufkauften. Unsere damals weit ärmere Bevölkerung fand in diesem Garnspinnen Verdienst; war's auch nicht groß, es war doch etwas. Die alten Leute unserer Dörfer erzählen noch oft und gern von der früheren Armut, der kärglichen Lebensweise, dem wenigen Hausgerät. War's auch nicht an allen Orten so schlimm wie in Rebgesheim, Köddingen und Sichardshausen, wo noch vor 50, 60 Jahren das halbe Dorf weit übers Land hinein betteln ging, der Bettelleute waren überall viele. Das Geld war äußerst knapp. Einer der größten Bauern hat mit gesagt, in seiner Jugend seien nicht viele Häuser gewesen, da man jederzeit 3 Batzen habe finden können. Wenn da einmal in der Spinnstube eine Festlichkeit gewesen sei, die Burschen einen Krug Branntwein getrunken hätten, dann hätte jeder seine liebe Not gehabt, die paar Kreuzer dafür zusammen zu bekommen. Und viele Leute hätten im Dorf gelebt, die jahraus, jahrein nur an den allerhöchsten Festtagen ein Stück Fleisch auf den Tisch bekommen hätten, da sie zum kaufen eines Ferkels und heranmästen eines Schweins zu arm gewesen seien. Da griff, wer konnte, zu, sich mit Spinnen Geld zu verdienen. Dazu kam, daß der Bauer sich aus selbstgesponnenem Garn kleidete. Das "schäfftig Zeug" und die "Beiderwand" standen noch in Ehren. Die Mutter gab der heiratenden Tochter und dem heiratenden Sohn selbstgesponnenes Tuch oder Kloben Flachs mit. Die Dienstboten bekamen einen Teil des Lohns in selbstgewebtem Tuche oder sie erhielten auch ein Stück Feld mit Flachs eingesät. Das waren die goldenen Zeiten des Spinnrades. Die Spinnstube war zugleich Fabrik- und Hauswerkstätte. Aber sie waren noch mehr als das. Die Arbeit war doch eine andre als in unsern Fabriken. Da saß kein Meister, der den Arbeitenden fortwährend auf die Finger sah, da war keiner, der das Schwätzen und Singen verbot, da konnten sich diejenigen in Spinnstuben zusammentun, die dem Alter nach zusammengehörten. Wohl gab die Mutter dem Sohn oder der Tochter, wie es im Vogelsberg hie und da heute noch ist, einen bestimmten Teil Garn zu spinnen auf, aber immer blieb noch Zeit für Vergnügungen, zu Spiel, zu Scherz und auch wohl Tanz. Das schnurrende Spinnrad störte die Unterhaltung und das Singen nicht. Von neun Uhr ab - und das ist heute noch so - kommen die Burschen in die Mädchenspinnstuben. Die Liebe der jungen Leute konnte hin und her die Fäden spinnen. So waren die Spinnstuben die Lust und Freude der Jugend. Man versteht von hier aus auch, mit welch' ungeheurer Kraft die Spinnstuben die einzelnen zu ihr gehörigen zusammenhielt. Es bildete sich von selbst unter den Gliedern eine Kameradschaft, wie sie sich der Mensch nur wünschen mag. Oft erzählte ein Kamerad dem andern, was er selbst den Geschwistern und Eltern vorenthielt. Die Spinnstubenkameraden singen im Vogelsberg heute noch dem "Bait" machenden das Hochzeitslied, sie kaufen dem ehelich werdenden ein Hochzeitsgeschenk, sie besuchen miteinander die Märkte und Kirmes in den benachbarten Orten, sie lassen den kranken Kameraden nicht allein, sie gehen nebeneinander zum hl. Abendmahl, sie gaben früher den Hauptteil an der Beerdigung, wenn einer von ihnen starb, indem sie selbst ihm das Grab gruben und den Sarg trugen. Die Spinnstube war und ist noch für sie die zweite Heimat.
2. Das Wort "Spinnstubb" hat im Munde unserer Vogelsberger Bauern eine ganz bestimmte Bedeutung. Man nennt so eine Gesellschaft von jungen Leuten einerlei Geschlechts. Ich schreibe mit Vorbedacht: "einerlei Geschlechts". Wir haben im oberen Vogelsberg heute noch Mädchenspinnstuben und Burschenspinnstuben, aber wir haben keine Spinnstuben, zu denen auch etwa die Glieder einer Familie oder Burschen und Mädchen zugleich gehören. Wenn, wie es von Abend neun Uhr an wohl überall im Vogelsberg der Fall ist, Burschen und Mädchen bei diesen Zusammenkünften vereinigt sind, so sind die Burschen Gäste der Mädchenspinnstuben, sie haben nicht in deren Leitung hineinzureden, sie bilden sie nicht mit. Ebenso dürfen die Glieder der Familie, die die Spinnstube aufnimmt, nicht zu ihr gezählt werden. In der Umgebung von Gießen haben wir die Burschenspinnstuben seit Jahren nicht mehr, aber es gab sie früher. Alte Leute wissen sich wohl zu erinnern, daß sogenannte "Spillestuben" existiert haben und diese Spillestuben, in die sich gerade in den letzten Jahren auch die Burschenspinnstuben des Vogelsberges zu verwandeln angefangen haben, sind die Reste dieser alten Spinnstuben. Ich habe Notizen nach Burschenspinnstuben gesucht und zwei Hinweise gefunden: Zum ersten eine Kunkelstubenordnung des schwäbischen Dorfes Sigertshofen von 1700 in der es heißt: "Die Buben sollen in ihre Gungelstuben gehen und nicht zu den Mägden, sondern ihnen ausweichen." Ferner lautet eine Bemerkung des Pfarrers Gaissen zu Frau Thann, in seiner Arche Noës von 1693: "Eine gar böse Gelegenheit ist solche Gungelstuben, wo die jungen Burschen allein zusammen kommet, unzüchtig redet, singet, springet, scherzet, betastet, sich begeben." Auch dies eine Beweis, wie mancher alte Brauch noch im Vogelsberge lebendig ist. Neben diesen Spinnstuben des ledigen Volkes bestanden früher auch noch Spinnstuben verheirateter Männer. So in Beuren, Atzenhain, Heinbach, Eichelhain. In diesem letzeren Orte haben die Männer nicht nur in ihren Spinnstuben gesponnen, sondern auch die Feste, die die Spinnstuben des ledigen Volkes feierten, mit gefeiert, als "lange Nacht", Scheidowet", Neujuhr".
3. Die Spinnstube dauert den Winter hindurch, etwa von Ende November bis Pfingsten. Zu Großen-Linden begann sie am Abend des 25. November, des Tages des Butzbacher Katharinenmarktes, wie noch an manchen Orten der Wetterau. Einige Tage vorher kamen die Altersgenossen zusammen und beredeten den gemeinsamen Gang zum Markte, auf dem die Leute aus dem Hüttenberge damals hauptsächlich den Flachs verkauften. In Engelrod beginnt sie, nachdem man mit der Arbeit auf dem Felde aufgehört hat. Ihr ursprünglicher Endtermin scheint Pfingsten zu sein. "Das Recht ist bis Pfingste" hat einmal ein Mädchen in Engelrod seiner Herrschaft gesagt, als diese es nach Ostern die Spinnstube nicht mehr besuchen lassen wollten. Doch kommt man in der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten nur noch an den Sonntagen zusammen. In König im Odenwald dauern die Spinnstuben bis Fastnacht, ähnlich in anderen Orten. Die einzelnen Spinnstubenabende beginnen heute im Vogelsberge etwa um sechs Uhr. Die jungen Leute suchen die Spinnstube nach der "Noachtsupp" auf. Im Kreise Lauterbach ist der Schluß der Spinnstuben auf abends zehn Uhr angesetzt. Natürlich wird diese Anordnung zuweilen übertreten, aber im allgemeinen hat sie sich gut eingelebt. Gendarmen und Bürgermeister hielten wenigstens in der Zeit, als ich in Engelrod wohnte, streng darauf. In Beuern und anderen Dörfern des Kreises Gießen hört die Spinnstube erst um elf Uhr auf, eine Tatsache, die schon oft die Nachbarn der Spinnstube und Freunde der Jugend veranlaßt hat, nach einer gleichen Verordnung auszuschauen.
4. Sehen wir uns nach dem Orte um, an dem dieselbe gehalten wird, so können wir im Vogelsberge von zwei Arten der Spinnstube reden. Wir haben einmal die Spinnstube mit einem festen Heim, d.h. sie tagt den ganzen Winter über in einem und demselben Hause, und dann die Wanderspinnstube, d.h. sie wechselt wöchentlich ihren Aufenthalt; in dieser Woche kommt sie bei den Eltern dieses Mädchens, in der nächsten bei den Eltern jenes zusammen. Eine Spinnstube mit festem Heim haben wir z.B. heute noch in Engelrod, hatten wir früher auch in Schlechtenwegen und anderen Orten. Die wöchentlich wechselnde Spinnstube findet sich z.B. in Beuern und Dörfern der Nachbarschaft, wie auch in solchen des Odenwaldes. Auch täglich wechselnde war früher in Großen-Linden heimisch, und so genau wurde hier die Reihenfolge eingehalten, daß wenn die Spinnstube in diesem Jahr im Hause A. angefangen hatte, sie im nächsten beim Hause C. begann. Bei Trauerfällen findet sich gewöhnlich im Kreise Alsfeld eine geringere Familie bereit, die Spinnstube gegen Entgelt zu übernehmen. In Engelrod und seiner nächsten Umgebung haben wir also die Spinnstube mit festem Heim. An Sonntagabenden im Spätherbst gehen die Mädchen oder Burschen aus, eine Stube im Ort für ihre Spinnstube auszumachen. Der Herr des Hauses, in dem die bittende Schar erhört wird, wird "Spinnherr" , die Hausfrau "Spinnfrau"; das Haus selbst ist das "Spinnhaus". Als Vergütung für die Aufnahme bezahlen die Spinnkameraden das Petroleum, das in der Stube allabendlich verbrannt wird. (Die Gastfamilie hielt sich ebenfalls in Raum auf, brauchte also kein eigenes Licht). Außerdem schenken sie der Familie zu Weihnachten oder Neujahr eine Tischlampe, eine Bettdecke u. dergl. Am Geburtstage des Hausherren erfreut man diesen durch eine Pfeife oder Zigarren. Ferner nimmt die Familie an den Feiern der Spinnstube teil, ißt und trinkt mit. Der Spinnherr und mehr noch die Spinnfrau sollen die Ordnung der Spinnstube aufrecht halten. Es erschien mir eine große Sorge des Pfarrers zu sein, hier die Augen aufzutun und vermöge seines Einflusses bei den jungen Leuten, sie von Häusern mit unpassenden Hauseltern abzuhalten. Es wird aber den suchenden Mädchen und Burschen nicht immer leicht, ein Haus zu finden - oft bleibt allerdings eine Spinnstube auch viele Jahre lang in demselben Hause - um so mehr, als im Kreise Lauterbach, der in den Spinnstubenverfügungen musterhaft ist, laut behördlicher Verfügung die Spinnstube nicht bei einer alleinstehenden Witwe und nicht in einem Hause mit schulpflichtigen Kindern gehalten werden darf. Außerdem lieben viele Familien den Lärm, die Störung der eigenen Behaglichkeit, die Beschmutzung von Stube und Hausehren nicht.
5. Ich komme nun zu der Arbeit in der Spinnstube. Das eigentliche Arbeitsgerät ist das Spinnrad, auch kurzum "Rad genannt, das sich uns als eine kunstreiche Vorrichtung darstellt. (Im Vogelsberg wird mit "Bockrad", mit Doppelschnursystem, gesponnen, bei dem das Rad etwas niedriger neben dem Spinnkopf sitzt. à Technik: Spinnen von Wolle.) Ein vertikal stehender Stock trägt den mit Flachs, den "Rockel" so die Engelröder Bezeichnung, sonst auch "Rocken" genannt, der oft mit eine bunten, auch buntseidigen "Schnur" - einem Band - umwunden ist; ein Geschenk von freundlicher Hand. Unten am Rockenstock ist ein kleines Gefäß mit Wasser angebracht, das "Netztöpfche" aus dem die Spinnerin von Zeit zu Zeit die Finger und damit den Faden netzt. Es ist eine Kunst, den Flachs um den Rocken richtig herumzulegen. Man hat dafür das Sprichwort: "Der Flachsrockel muß sein, daß er kracht und der Wergrockel, daß er lacht." D.h. der Rocken des Flachses soll fest, der Rocken des Werkes lose sein. Die Mädchen spinnen in ihren Spinnstuben gewöhnlich den Werg, die Burschen in ihren den Flachs. Ein Mannskerl versteht es ganz selten, seinen Rockel richtig mit Flachs zu umwinden. Darum wandten sich die spinnenden Burschen gern an die "Weibsleut". Wehe aber der Ungeschickten! Der Rockel wurde, wie sie ihn hergestellt hatte, an die Stubentür mit Kreide gezeichnet, und an Hohn und Spott fehlte es nicht. Die Kunst der Spinnerin besteht darin, einen möglichst gleichmäßigen und feinen Faden zu spinnen. Eine sehr geschickte und fleißige Spinnerin, die von Morgens 4 Uhr ab bis spät Abends ununterbrochen spann, bracht, beiläufig gesagt, in einem Tage ungefähr drei Haspel (Strang) fertig, das ist drei mal 520 mal den Umfang des Haspelrades. Doch war das eine Ausnahmeleistung. In der Spinnstube gebrauchte man auch noch das andere, zum Spinnrad gehörige Gerät, den Haspel. Es dient dazu, das auf der Spule aufgelaufene Garn in einen Strang zu binden. Eigentümlich ist, daß der in Engelrod und Umgebung gebrauchte Haspel einen größeren Radumfang hat als der Haspel, den man in Beuren, Hungen oder Meiches gebrauchte. In Engelrod geben 26 Faden, d.h. 26 mal der Umfang des Haspelrades ein Gebind, 10 Gebind "e Hall" = einen Halben; zwei Hall einen "Zaspel", das ist ein Strang. In den anderen Orten geben 60 Umwindungen ein "Geblätz" (der Name kommt daher, daß nach 60 Umdrehungen der Haspel einen "Blatz" tut) zehn Geblätz eine Zahl, d.h. ein Strang. Beim Spinnen in der Spinnstube hat jedes Mädchen seinen bestimmten Platz. In der "doppelten Eck" (da, wo die Bänke zusammenstoßen) sitzt das "Spinnmädchen", die Tochter des Hauses. An diese reihen sich rechts und links dem Alter nach die anderen an. Der Platz des "Spinnmädchens gilt als Ehrenplatz. In der Spinnstube wird aber nicht nur gesponnen. Eine Hauptunterhaltung der Mädchen während des Spinnens ist das Singen. Die Mädchen singen die Lieder zweistimmig, oder, wie der Bauer sagt "hell" und "grob". Singen die Burschen mit, so übernehmen diese die zweite Stimme. In jedem Winter hat man andre Lieder als Lieblingslieder, da in jedem Winter neue bekannt werden oder alte wieder zu Ehren kommen. Neben dem Spinnen nimmt die gemütliche Unterhaltung einen breiten Raum ein. Die Dorfneuigkeiten werden erzählt und erörtert. Wenn der Pfarrer auf der Kanzel oder sonstwo ein wenig sehr deutlich geworden ist, wird das verarbeitet und "simmiliert", wer dem Pfarrer dies oder das gesagt haben kann. Neckereien, Spöttereien, Klatschereien werden laut - kurz, es wird "schlächt geschwätzt". Oft geht auch die Unterhaltung auf Geister und Gespenstergeschichten und auf Dorfsagen über. Doch auch die lustigen Anekdoten und Schnurren fehlen nicht. Es hat mich ganz eigen berührt, als ich bei der Sammlung solcher Spinnstubengeschichten auf einen Stoff kam, den die Brüder Grimm in ihren deutschen Hausmärchen gleichfalls haben. Ein Hauptspaß der Mädchen, so lange sie unter sich sind, ist das "uff de Laust' gehen". Eine jede Spinnstube der Mädchen hat mit der gleichaltrigen Spinnstube der Burschen vorzugsweisen Verkehr. Zwischen diesen beiden Spinnstuben wird nun viel Neckerei getrieben. Man versucht unbemerkt an die Fenster der anderen Spinnstube heranzuschleichen und wirft nun mit einem Male eine Handvoll Erbsen gegen die Scheiben. Der Lärm, den das macht, und der Schrecken, den die Insassen bekommen! Oder es wird "Pfeffer gerieben", d.h. am Eckpfosten des Hauses wird draußen mit einem Holze, das über die Schindeln hin und her bewegt wird, ein lautes, kreischendes Geräusch hervorgebracht, mit dem gleichen Erfolge und anderes mehr. Die Burschenspinnstuben sind die Orte, in welchen die Spottgedichte verfaßt werden, die ja in allen Dörfern nicht selten sind. Weibliche Poeten kennt der Vogelsberg kaum. Diese Spottgedichte, die auf gewissen Personen oder Vorfälle gemacht werden, werden in der Nacht heimlich an die Backhaustür oder sonst an einem Platz angeschlagen, an dem viele vorbeigehen, und finden immer am folgenden Tag einen dankbaren Leserkreis. Zuweilen sind sie voll guten Witzes und Humor. An jedem Spinnstubenabend um neun Uhr, Sonntags um sieben Uhr, gehen die Burschen aus ihrer Spinnstube in die der Mädchen, zu der sie sich halten. Wer früher kam, wurde "Hännerslochskriecher" genannt. Die Burschen beanspruchen, wenn sie älter waren, den Platz auf der Ofenbank; so lange sie jünger sind, suchen sie sich in die Reihe der Mädchen hineinzubringen. Die Burschen sehen den Mädchen zu und fangen Neckereien an. Sie hängen den "Knecht" (Trittbrett) am Spinnrad ab, daß sie nicht mehr spinnen können, um die Mädchen zu veranlassen, sich mit einem Kusse zu lösen. Oder sie hängen demselben den Rocken ab. Sie schütteln auch wohl den Mädchen die Schürze, daß die "Ane", das unbrauchbare am Flachs, zu Boden fallen, und beanspruchen für diesen Liebesdienst gleichfalls einen Kuß. Setzt sich ein Bursch neben ein Mädchen, das ihn nicht mag, so sagt es auch wohl, wenn es den nötigen Mut hat:
"Geh mr weg, du grober Kittel, du sollst mir die Ahn' nit schütteln, meine Ahne hängen fest, sie warten noch auf andre Gäst'."
6. Es bleibt mir noch übrig, die Feste und die bedeutungsvollen Tage der Spinnstube zu schildern. Da sie meistens mit einem Tanze schließen, so sei mir gestattet, einige Worte über das Tanzen in den Spinnstuben zu vorauszuschicken. Die Reigen werden meistens bei den Klängen einer Ziehharmonika, selten einer Geige getanzt. Die Ziehharmonika ist noch nicht lange im Vogelsberg eingebürgert. Die alten Leute erzählen, wie früher die Burschen die Musik durch Pfeifen auf einem mit Papier umwickelten Kamme selbst hergestellt, oder auch die am Tanze Unbeteiligten die Melodie gesungen hätten. Weiterhin ist zu beachten, daß in engen Stuben getanzt wird. Oft zwanzig und mehr sind da vereinigt. Für alle reichen die Bänke und die wenigen Stühle gar nicht aus. In den Zwischenpausen des Tanzes setzen sich oft zwei, drei oder vier aufeinander, immer der eine auf des anderen Knie, ein für die "Führnehmen" gar seltsamer Anblick. Man male sich einmal dies Bild der Spinnstube aus, vergesse nicht den Dampf der Zigarre (niedrigster Qualität) die sich die Burschen in den Zwischenpausen des Tanzes leisteten, das Gesinge, die Krische die mitunter laut werden, die drückende Luft - es ist für die Städter nichts weniger als ein schönes Bild, dieser Blick in einen Tanzsaal des Landes. Die erste Feier der Spinnstube ist der "Eenzog", das "Iweihe". Im Odenwald sagt man: sie wird "ohgesoffe". Die Mädchen kochen Kaffee, die Burschen holen sich einen Krug Branntwein oder Bier. Wenn die Burschen die Mädchen besuchen, bezahlen sie ihnen einen Weck, die auf dem Lande eine Leckerei darstellen. Früher wurde immer getanzt, heute nur noch selten und nur bis zehn Uhr. Will eine Spinnstube über zehn Uhr hinaus tanzen, so bedarf es eines "Tanzzettels" den sie sich zu beschaffen hat. Die "lang Nacht", oder, wie man in Hopfmannsfeld und Schlechtenwegen sagt, der "erste Scheidewet", ist der zweite bedeutsame Tag der Spinnstube. Es war in Engelrod stets die Nacht vom 23. auf 24. Dezember. In den Spinnstuben wurde früher an diesem Abend besonders lang gesponnen. Die Dienstboten konnten nach alter Sitte von zehn Uhr ab für sich selbst spinnen. Am Abend der langen Nacht kommen in die Spinnstuben Frauen, die "Kichelche" verkaufen. Die Burschen nehmen sich davon für die Mädchen. Es beginnt nach der langen Nacht die Zeit der altheiligen Zwölfnächte um Neujahr, in welchen in alten Zeiten die ganze Arbeit, vor allem auch das Spinnrad stillstand, die "Heltag", die "Nittutag" wie die Bauern im oberen Vogelsberg diese Zeit bezeichnen, die "Laustag" (Lostage) wie man in Beuern sagt. In Engelrod oder auch in Schlechtenwegen meidet man heute noch bis Neujahr alles spinnen; das Rad ist auf die Kammer der Oberstub' gebracht. Am Abend des zweiten Christtages feiert man "Scheidowet! (Scheideabend) und zwar Burschen und Mädchen in den Spinnstuben der letzteren. Für das Essen, Wurst und Brot, zum Schluß Kaffee und dazu Kuchen, sorgen die Mädchen, die Burschen haben die Getränke zu stellen, früher Brandwein, heute Bier. Alles in Allem: eine Tanznacht der Spinnstuben. Am Nachmittage des nächstfolgenden Tages begleiten die jeweiligen Spinnstuben-Gemeinschaften den in einen neuen Dienst tretenden Kameraden zu seiner neuen Herrschaft. Gesang verkürzt den Weg. Überall hört man am Nachmittag des "Scherztages" singen, auf den Wegen und Chausseen, die von einem Dorf zum anderen ziehen, bald von einer Schar Mädchen, bald von einer Schar Burschen. Das nächste größere Fest findet am "Naujuhrschowet", dem Silvesterabend statt. Da ladet die Spinnstube der Burschen die Mädchenspinnstube, mit der sie Verkehr hat, zu sich ein. Am Silvesterabend nach dem Gottesdienst versammeln sich die Mädchen in ihrer Spinnstube und warten, bis die Burschen sie holen. Es ist kein Anstand, wenn ein Mädchen von selbst hingeht. Die Burschen kommen und holen ihre Gäste. Das erste, was ihnen vorgesetzt wird, ist zuckergebrannter Branntwein. Dann beginnt der Tanz, den kurz vor zwölf eine Eßpause, in der die Burschen die Mädchen bedienen und Wurst und Brot darreichen, unterbricht. Um zwölf Uhr beginnen die Glocken zu läuten. Alles geht vor die Haustür und singt: "Hilf Jesus, laß es gelingen". Am Epiphaniastage wählten die Spinnstuben in Schlechtenwegen einen König und eine Königin, auch in Engelrod und anderen Pfarreien kennt man diesen alten Brauch. Das letzte große Fest der Spinnstube ist die "Fasert" oder Fastnacht, die im Vogelsberg allgemein nur am Fastnachtsdienstag gefeiert wird. Die Mädchen backen am Nachmittag in den Spinnstuben Kreppel, mit welchen sie die am Abend kommenden Burschen bewirten. Am Abend wird flott getanzt. Nach Fastnacht kommt die Zeit des "Strickgehens". Die Mädchen besuchen ihre Freundschaft in den benachbarten Dörfern. Oft sieht jetzt die Spinnstube fremde Gäste. Der letzte bedeutsame Tag im Jahresverlauf ist dann noch der zweite Ostertag. Man sagt: an diesem Tage wird "das Licht versoffe". Die Mädchen trinken Kaffee, die Burschen einen Krug Branntwein.